Bemerkenswerte Reise zurück ins Leben
Leben mit den Folgen eines schweren Hirnschlags.
Mit dem Hirnschlag im Sommer 2003 begann für Cornelia Sager eine schwere Zeit der Akzeptanz und der Kampf zurück ins Leben. Sprechen und Schlucken musste sie erst wieder lernen, ihre linke Körperseite ist bis heute gelähmt. Auf der Frührehabilitation in der Reha Rheinfelden nahm ihre bemerkenswerte Reise zurück in eine Teil-Selbständigkeit ihren Anfang.
Frau Sager, Sie haben dieses Jahr Ihr 20-Jähriges gehabt – 20 Jahre nach ihrem Hirninfarkt und 20 Jahre in der Reha Rheinfelden. Können Sie uns erzählen wie es damals war im Sommer 2003?
Ich war auf dem Weg in die Ferien. Im Gotthard Tunnel erlitt ich einen schweren Hirnschlag in der rechten Hirnseite. Dadurch stieg der Hirndruck lebensbedrohlich an. Ein Neurochirurg vom Kantonsspital Lugano hat die rechte Schädeldecke entfernt und mir so das Leben gerettet. Es folgten 9 Monate Spital- und Reha-Aufenthalte.
Mit Magensonde und intubiert auf der Frührehabilitation der Reha Rheinfelden erfolgte das anstrengende neurologische Training. Dadurch musste ich mich mit meiner lahmen linken Seite auseinandersetzen und sie akzeptieren lernen. Zudem hatte ich einen stark ausgeprägten Neglect nach links. Mir wurde alles auf die linke Seite gestellt – das hat mich genervt, weil ich es auf der linken Seite nicht auf Anhieb wahrgenommen habe. Mein Körper war mir fremd - aber mein Charakter, der ist geblieben. Ich habe zu meiner linken Seite "Frosch" gesagt. Und auch "nimm den Typ (Frosch) da aus dem Bett" – damit meinte ich meine linke Seite, weil die "nicht zu mir gehörte".
Es folgten intensive Therapien: Logopädie, Physio- / Ergotherapie, Psychotherapie und Musiktherapie. Mein Tag war ausgefüllt. Alles strengte mich übermässig an, weil ich an meinen Defiziten arbeiten musste.
Es war mir wichtig, dass ich mit meinen Sorgen ernst genommen wurde und als vollwertige Person akzeptiert war. Dabei hat mich Prof. Dr. Thierry Ettlin einfühlsam, verständnisvoll und genau richtig bis heute unterstützt. Ich hatte nie eine intellektuelle Einbusse, nur eine physische.
Ich konnte auch nicht mehr schlucken und sprechen – aber ich habe alles verstanden. Als besonders schlimm habe ich es empfunden, wenn die Fachkräfte am Bett über mich gesprochen haben. Nur wenige haben mir eindeutige Ja/ Nein- Fragen gestellt. Das wäre so wichtig gewesen, damit ich richtig hätte antworten können. Abmachung war 1x Händedruck war «JA» und 2x Händedruck war «NEIN»! Wenn ich angefasst wurde, ohne dass es mir vorher mitgeteilt wurde, erschrak ich sehr. Denn alles, was links war, habe ich nicht wahrnehmen können.
Insgesamt wusste ich anfangs gar nicht mehr, wo ich war. Ich habe Personen gesucht, die mir geglaubt haben. Für mich war es sehr schwer in der Anfangszeit, meiner Umwelt zu beweisen, dass ich nicht dumm bin.
Weil ich den Boden nicht mehr gespürt habe, wurde ich regelmässig aufrecht ans Stehbrett geschnallt. In dieser Position fühlte ich mich schwer behindert. Geholfen hat mir der Gedanke an meine körperbehinderten Schüler, die das immer tapfer erduldet haben. Das hat mir Kraft gegeben. Insgesamt war ich damals neun Monate stationär in der Reha Rheinfelden.
Sie standen damals mit 40 Jahren mitten im Leben. Was war damals das Schwerste für Sie?
Ich war von einer Sekunde auf die andere, rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen. Es entstand eine grosse Diskrepanz zwischen Intellekt und körperlichen Möglichkeiten. Diese plötzliche Abhängigkeit war sehr schwer zu ertragen. Ich wollte als behinderte, halbseitengelähmte Frau, meinen Kindern trotzdem eine gute Mutter sein. Sie waren damals sechs und sieben Jahre alt. Dieses Ziel, hat mich motiviert und mir Kraft gegeben, den fordernden Reha-Alltag zu ertragen. Dabei war mir wichtig, das Ziel der medizinischen Massnahmen zu kennen. Wozu Schmerzen aushalten und durchbeissen? Was bringt das auf dem Weg der Besserung? Unser grosser Freundeskreis ist bis heute eine grosse Unterstützung.
Vor dem Hirnschlag war ich in Beruf, Stadt und Familie sehr engagiert. Ich hatte viele Hobbys und musste akzeptieren, mich auf einen Schlag von all den Aufgaben zu verabschieden. Ich musste mich rund um die Uhr auf meinen halbseitengelähmten Körper konzentrieren und trainieren. Mein Leitgedanke dabei war immer, «unsere Kinder haben einen lieben Papa, sie müssen aber auch wissen wer ihre Mama ist». Das hat mir viel Kraft und Mut gegeben. Bei der Tatsache, «eine Mutter fällt mitten im Leben aus», haben die Grosseltern und der Freundeskreis meinen Ehemann im Alltag unterstützt. Vorher war immer ich die Helfende für alle. Und jetzt muss ich Hilfe annehmen. Das ist bis heute nicht immer einfach für mich. Ich möchte niemandem zur Last fallen. Wie gut dabei, dass mich schon seit 20 Jahren mein Engel als IV-Assistenzunterstützung begleitet.
Es geht immer weiter, Millimeter um Millimeter. Der Fortschritt ist erst nach langer Zeit sichtbar. Das Training braucht viel Geduld, aber es lohnt sich!
Sie kennen die Reha Rheinfelden seit über 20 Jahren – und wir Sie J. Was hat sich aus Ihrer Sicht entwickelt? Was schätzen Sie an unserem Haus? Gibt es etwas, was Sie als langjährige Patientin bei uns vermissen?
Heute betrete ich die Reha Rheinfelden im Rollstuhl und teilweise zu Fuss. Die Reha hat sich baulich vergrössert und Arbeitsabläufe wurden durch das Patientenmanagement optimiert. Dank des Patiententransports wurden die Wartezeiten verkürzt und die Patientinnen und Patienten schlafen weniger in den Wartebereichen ein. Ich schätze die professionelle, kompetente Therapie und die Kontakte zu langjährigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Ich schätze das Wiedersehen im fast familiären Ambiente und die persönlichen Gespräche unterwegs in den langen Gängen. Im Speisesaal fühle ich mich wohl. Ich darf an einen gedeckten Tisch sitzen, ein Menu wählen und werde vom Personal einfühlsam bedient. Ich erlebe dort aufmerksame, wahre Fürsorge: gemeinsam lachen, reden und auch mal eine Umarmung. In der Reha Rheinfelden lerne ich Menschen mit gleichem Schicksal kennen und gebe gerne meine Erfahrung weiter. Seit der Einführung des Patientenmanagements ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Ärzten, Therapeuten, Pflegepersonal und Patienten spürbar besser geworden. Die Patientenunterhaltung wurde erweitert und lockert den Reha-Aufenthalt auf.
Ich bin dankbar, dass die Raucherzone vom Eingangsbereich in den Raucherpavillon verlegt wurde. Es wäre eine Bereicherung, wenn es Gesprächsrunden mit Patientinnen und Patienten gleichen Schicksals geben könnte. Bei der Therapieplanung wünschte ich mir mehr Pausen oder Ruhezeiten, um Eindrücke und neu Gelerntes verarbeiten zu können. Eine einfühlsame Pflege ist dabei sehr wichtig. Der nahtlose Übergang von Termin zu Termin war für mich oft überfordernd. Man fühlt sich schnell wie "einfach abgestellt", wenn man so abhängig von anderen ist im Rollstuhl.
Nicht nur die Reha Rheinfelden hat sich verändert, auch meine Rolle als Patientin ist heute eine andere. Ich kann sprechen und mich, wenn nötig, wehren. Ich kann meine Bedürfnisse formulieren und was geht, selbständig erledigen.
Wie würden Sie die Reha Rheinfelden mit 3 Schlagworten beschreiben?
Kompetent, hilfreich, meine Reha-Familie
Wo fühlen Sie sich in der Reha Rheinfelden als Patientin und als Mensch gesehen?
In den Einzeltherapien, im Speisesaal, am Empfang, in der Bibliothek und bei weiteren persönlichen Begegnungen. Diese Personen hören intensiv zu und spiegeln das Leben ausserhalb der Klinik. Es war und ist immer ganz wichtig, dass ich weiss, warum etwas gemacht wird – es mir erklärt wird. Wenn eine Pflegefachfrau oder ein Therapeut das so machen, ist es sehr wertvoll und wertschätzend und lässt mich Mensch sein.
Welchen Rat würden Sie der Reha Rheinfelden aus der Patientensicht gerne mitgeben?
Weiter ermöglichen, dass die persönlichen Kontakte stattfinden können und dürfen. Genügend Personal anstellen, vor allem in der Pflege. Den Patiententransport noch mehr ausbauen, um die langen Wartezeiten zu minimieren. Der Patiententransport ist so wertvoll.
Den Gottesdienst am Sonntag in einen für alle zugänglichen Raum verlegen.
Welchen Stellenwert nimmt die Therapie heute noch in ihrem Leben ein?
Einen sehr hohen, da ich täglich mind. eine Therapiestunde besuche, ergänzt durch Eigentraining. Ich habe 1 x in der Woche Psychologie, Lymphdrainage und Ergotherapie und alle zwei Wochen im Wechsel Physiotherapie und Massage. Mein Eigentraining mache ich selber jeden Tag! Dazu kommen monatliche Manicure und Podologie, sowie wöchentlicher Coiffeurbesuch.
Wie gehen Sie mit Zwischentiefs um? Und was sind ihre tollsten Erfolgserlebnisse/ Überraschungen in Ihrem Leben?
In der Überforderung weine ich und suche durch Gespräche aktiv Lösungen. Im Sommer gönne ich mir eine Scooterfahrt in die Natur.
Das erste Mal wieder selbständig schlucken zu können - sogar Chips. Wieder schreiben zu können. Die ersten Schritte ohne Stock und die ersten Schritte Barfuss zu gehen. Spüren, wie das Meerwasser die Füsse überspült. Der erste Händedruck. Die Zahnbürste wieder selber halten zu können. Eine Fliege die den lahmen Arm kitzelt. Als Rollstuhlsängerin auf der Bühne stehen. Mit dem Scooter allein die Welt erkunden – ich fahre mit dem auch alleine nach Aarau in die Stadt. Meinen Scooter würde ich nie hergeben. Er gibt mir seit rund 13 Jahren viel Selbständigkeit und das ist unglaublich "befreiend" für mich. Einen Restneglect habe ich noch, wenn ich müde bin. Dessen bin ich mir sehr bewusst. Wenn ich dann mit dem Scooter unterwegs bin, orientiere ich mich am rechten Randstein. Das funktioniert gut. Ich tanke Kraft in unserer wunderschönen Wohnung und meinen Verwandten in Arosa. Jede Unternehmung mit lieben Freunden ist mir eine Tankstelle. Hinzu gehören auch widerkehrende Ferien in meinem Lieblingsland Griechenland.
Haben Sie Hobbies? Wo tanken Sie Kraft?
Ich singe in einem Chor mit, wo mich die Bekanntschaften bereichern. Das Unterrichten der Kinder macht mir nach wie vor sehr viel Spass. Die Familie und Freunde sind mir sehr wichtig und geben mir Kraft. Ich beschäftige mich zudem mit der Kalligrafie und dem Mandala malen. Ich sammle Bilderbücher, welche ich auch sehr gerne anschaue und in die Schule mitbringe. Beim Scooter fahren fühle ich mich frei, das ist schön. Meine Siesta mittags ist mir sehr wichtig. Am Anfang habe ich damit Mühe gehabt, weil ich so "faul" war. Doch diese Pause ist nötig, damit mein Körper sich erholen kann und ich Kraft für den Nachmittag habe. Nach langen Tagen bin ich sehr müde.
Wenn Sie EIN Symptom an Ihrer Krankheit verändern könnten – welches wäre das?
Ich möchte mich besser von den Problemen meiner Umwelt abgrenzen können, um nicht von Emotionen überflutet zu werden. (Anmerkung: ein Insult in der rechten Hirnhälfte begünstigt teilweise sehr das verstärkte emotionale Wahrnehmen). Die körperlichen Einschränkungen belasten mich weniger. Ich wünsche mir "einen Gehstock für meine Seele". Zum Gehen habe ich ja einen.
Ich möchte sicherer stehen und gehen können. Frei durch die Stadt bummeln und einkaufen.
Sie arbeiten noch im kleinen Pensum als Lehrerin. Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Mal in der Klasse nach Ihrem Insult 2003?
Ich begann im Jahr 2007 wieder in der Schule. Ich war sehr glücklich. Es war ein grosser Schritt auf dem Weg vorwärts in die Vergangenheit. Die Schule ist mein Lebenselixier und gibt mir Energie. Ich unterrichte eine Schulstunde in der Woche. Diese Möglichkeit schätze ich sehr.
Für was sind Sie dankbar?
Für die unermüdliche Hilfe meines Mannes und das Verständnis meiner Kinder. Für das Vertrauen meiner Kinder. Für die professionelle Hilfe von Prof. Dr. Thierry Ettlin und allen Therapeutinnen und Freundinnen, die nicht aufgehört haben, an mich zu glauben. Für die Unterstützung der Reha Rheinfelden mit all ihren Angestellten. Für die Unterstützung meiner IV-Assistentinnen, die mir das Leben zu Hause ermöglichen.
Was möchten Sie unbedingt in Ihrem Leben noch machen?
Auf den Boden sitzen und ein Feuer entfachen. Ich kann das noch nicht und mein "Pfadiherz" wünscht sich das sehr! Und einmal zu meinem Onkel nach Kanada reisen.
Welche 3 Erkenntnisse, die Ihnen helfen/geholfen haben, würden Sie Betroffenen und auch Angehörigen gerne mitgeben?
Unbedingt der Therapeutin mitteilen, wenn Schmerzen auftreten. Den Angehörigen möchte ich mitgeben, dass sie den Glauben an eine Verbesserung nie verlieren und dass der Betroffene seinen Charakter nicht verliert. Eine Einschränkung verändert den Charakter des Menschen nicht. Angehörige sollen ihn und seine Bedürfnisse und Wünsche ernst nehmen. Es geht immer weiter, Millimeter um Millimeter. Der Fortschritt ist erst nach langer Zeit sichtbar. Das Training braucht viel Geduld aber es lohnt sich!
Reha Rheinfelden
Rehabilitationszentrum