Ohne Therapie könnte ich heute nicht mehr gehen
Die Diagnose Spastische Spinalparalyse hat das Leben von Hanspeter Guthauser drastisch verändert. Mit der Therapie in der Reha Rheinfelden kämpft er tagtäglich gegen die Krankheit an und bleibt bewundernswert optimistisch.
Hanspeter Guthauser führte seine eigene Bäckerei, bis seine Krankheit es nicht mehr zuliess. Dass er seine Tätigkeit als Bäcker nicht mehr ausführen kann, schmerzt ihn. Doch noch belastender ist der Umstand, dass er seine Krankheit auch seinen zwei Söhnen vererbt hat. Dennoch begegnet er jedem Tag mit neuem Optimismus und wirkt mit unterschiedlichen Therapien der Verschlechterung seines Zustandes entgegen.
Reha: Sie haben die Diagnose 1996 mit 46 Jahren erhalten – mitten im Leben…
Hanspeter Guthauser: Ich hatte vorher gar nichts, habe als Bäcker mit meiner Frau eine eigene Bäckerei geführt. Irgendwann fiel mir auf, dass ich komisch laufe – als wäre ein Bein kürzer als das andere. Ich bin dann zum Hausarzt, der mich an einen Neurologen überwiesen hat. Dort hat man zur Diagnose unter anderem eine elektrophysiologische Untersuchung gemacht.
Seit wann sind Sie bei uns in der Reha Rheinfelden?
Seit dem Jahr 2000 mache ich regelmässig ambulante Physiotherapie und Medizinische Trainingstherapie (MTT) – beides zweimal die Woche. Zweimal war ich stationär in der Reha Rheinfelden.
Welchen Stellenwert nimmt die Therapie in Ihrem Leben ein?
Ohne die Therapie wäre ich nicht so weit und nicht mehr so vergleichsweise «fit». Die Therapeutinnen und Therapeuten fordern mich, gehen mit mir gemeinsam über Grenzen, damit ich so wenig Rückschritte wie möglich mache. Sie dehnen und bewegen mich, wie es mir im Eigentraining unmöglich wäre. Ohne die Therapie könnte ich heute nicht mehr gehen. Aktuell kann ich mit Stöcken ca. 120 m gehen. Das übe ich konstant bei uns auf der Strasse – jeweils zu zwei Laternen und wieder retour zum Rollstuhl.
Was war das Schwerste für Sie?
Es ist eine Erbkrankheit… Leider sind meine zwei Söhne, Zwillinge, auch betroffen. Es ist ganz, ganz schwer für mich, meine eigenen Kinder so krank zu sehen und zu wissen, was sie erwarten könnte. Beide arbeiten aber noch 100%. Ausserdem durfte ich mit 64 Jahren nicht mehr Autofahren – ich musste einen Test machen und die Kraft in den Beinen war zu schwach. Das war einschneidend. Es nimmt einem die Selbständigkeit. Mein Auto wurde umgebaut auf Handbetrieb, ich habe Fahrstunden genommen und nochmals eine Prüfung abgelegt. Nach sechs Monaten durfte ich wieder fahren. Ich kann alles allein machen: den Rollstuhl ins Auto laden, einsteigen, zu den Therapien und in die Musikstunde fahren. Es braucht viel Zeit – aber ich KANN es!
Hatten Sie Ziele in Ihrem Leben, die Sie nach der Diagnose nicht mehr verfolgen konnten?
Wir hatten eine eigene Bäckerei. Mit 57 Jahren bin ich in der Bäckerei gestürzt, seitdem kann ich nicht mehr ohne Stöcke gehen. Ich musste die Bäckerei aufgeben. Das war ein grosser Einschnitt für mich, der mein Leben zusätzlich sehr verändert hat. Seither arbeite ich nicht mehr. Ein Sohn hätte unsere Bäckerei weiterführen sollen – aber auch das ging leider nicht. Früher bin ich 30 Jahre mit der Gruppe Laredos als Schlagzeuger aufgetreten, was mir sehr viel bedeutet hat. Schlagzeugspielen kann ich schon lange nicht mehr, weil zeitweise «das rechte nicht weiss, was das linke tut», da ich meine Beine ja nicht mehr einsetzen kann.
Es ist eine progrediente, also eine fortschreitende Erkrankung. Wie gehen Sie mit Tiefs um?
Der Sportler ist an einem Tag Erster, am anderen Elfter. So geht’s mir auch. Wenn ich einen sehr schlechten Tag habe, denke ich: «Morgen geht’s wieder besser!» Definitiv NICHT aufgeben. Wenn du etwas willst, musst du selbst ran. Vielleicht bin ich eine Art Vorbild für meine Jungs – aber jeder ist für sich und sein Leben selbst verantwortlich. Ich sehe viele Patientinnen und Patienten in der Reha, die zum Beispiel einen Schlaganfall hatten. Da geht es in der Regel aufwärts. Bei mir ist es anders: Ich muss dranbleiben und dafür sorgen, dass es weniger schnell abwärtsgeht. Es ist keine lebensbedrohliche Erkrankung.
Was sind Ihre tollsten Erfolgserlebnisse?
Ich sehe zu, dass ich weiterhin Reisen unternehmen kann. Ich habe Flussfahrten für mich entdeckt: Da habe ich das Schiff als fahrendes Hotel und kann trotz meiner starken Mobilitätseinschränkungen viel sehen. Vor fünf, sechs Jahren sind wir mit der Hurtigruten in die Antarktis gefahren. Das war unglaublich für mich! Ich konnte sogar an drei Anlandungen teilnehmen – die anderen haben mich getragen. Natürlich konnte ich mich in Eis und Schnee nicht bewegen – und weil ich dort so ruhig mit meinem Rollstuhl stand, kamen die Pinguine zu mir und waren neugierig. Ein spezieller Moment! Ich bin sehr froh, das gemacht zu haben. Heute könnte ich das nicht mehr. Mein Muskeltonus (Spannung der Muskulatur) ist bei grösserer Kälte mittlerweile so hoch, dass ich mich gar nicht mehr bewegen kann.
Mein Ziel ist es, «unter den Leuten zu sein».
Was erfüllt Sie? Welche Hobbies haben Sie?
Musik ist ein wichtiger Teil meines Lebens. Schlagzeug geht ja nicht mehr, deshalb spiele ich jetzt Mundharmonika. Das ist so schön! Ich trainiere meine Atmung, die Muskulatur. Und das kann ich machen, wann ich will und bin auf niemanden angewiesen.
Wenn Sie ein Symptom an Ihrer Krankheit verändern könnten – was wäre das?
Das schlechte Gehen. Gehend ist man überall dabei. Man kommt zwar weit mit dem Rollstuhl, ist aber immer eingeschränkt. Der Schritt in den Rollstuhl war schwer für mich. Irgendwann sagte meine Frau: «Jetzt setz dich mal rein.» Da habe ich gemerkt, wie viel Unterstützung der Rollstuhl mir gibt. Seitdem gehört er zu mir wie mein Portemonnaie.
Hören Sie auf das, was Ihr Körper Ihnen «sagt»?
Ich laufe und trainiere auch mal nicht, wenn ich etwas anderes Schönes machen kann. Zu viel kann ich nicht machen, Pausen und Erholungen sind aber extrem wichtig. Ich spüre sehr gut, was ich wann kann. Es gibt Tage, an denen ich so spastisch verkrampft bin, dass ich wie lahm werde und nichts machen kann. Deswegen ist es umso wichtiger, auch dann in Bewegung zu bleiben. Die MTT mit den vielen Geräten hilft mir dabei.
Wofür sind Sie dankbar? Was hätten Sie eventuell ohne Ihre Erkrankung nicht «lernen» dürfen?
Ich habe eine wunderbare Familie, ein gutes Umfeld, das mich unterstützt. Meine Frau gibt Tipps, wenn ich «so schief gehe» – das kann ich gut annehmen – und lässt mich trotzdem alles machen. Ich nehme Erlebnisse intensiver wahr, habe Freude, wenn ich etwas erreicht habe. Und ich nehme nicht mehr alles für selbstverständlich, wie ich das früher getan habe. Erlebnisse gehen mir mehr zu Herzen. Während COVID so akut war, konnte ich nicht mehr viel machen, ich war sehr eingeschränkt. Das muss man dann nehmen, wie es ist – und positiv denken.
Welchen Rat würden Sie Ihrem 20 Jahre jüngeren Ich geben?
Erlebe etwas! Jetzt musst du es machen – bevor es zu spät ist!
Angaben zur Erkrankung
Die Spastischen Spinalparalysen sind eine Gruppe hereditär (erblicher) degenerativer Erkrankungen des Rückenmarks, die zu einer schleichend progredienten (fortschreitenden) Gangstörung aufgrund von Spastik und Schwäche der Beinmuskulatur führen. Trotz ihrer Seltenheit ist es keine einheitliche Erkrankung, sondern teilt sich in mindestens 58 genetisch definierte Subtypen auf. Die Hereditäre Spastische Paraparese betrifft beide Geschlechter – zwei Drittel Männer, ein Drittel Frauen und kann in jedem Alter beginnen. Sie tritt bei etwa 4 bis 5 von 100’000 Menschen auf.
Die Krankheit kann viele Formen annehmen und die Folge unterschiedlicher Genanomalien sein. Bei allen Formen kommt es zur Degenerierung der Nervenbahnen, die Signale vom Gehirn zum Rückenmark (Muskulatur) leiten. Es gibt keine kausale Therapie, sondern es wird symptomatisch behandelt.
Reha Rheinfelden
Rehabilitationszentrum